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Ein Sommer der Stille im bunten Treiben 

Es ist für mich der erste Sommer an einem neuen Ort.

Ein völlig anderer Sommer, alles ist neu, die wärmere Sonne, die Formen der Wolken, der ganze Himmel ist ein Stückchen weiter oben als anderswo und größer, weiträumiger, weiter weg, fast als wolle er sagen:

„Es ist gut, es ist noch viel Zeit…“.


An manchen Tagen ist es richtig heiß, so heiß, daß die Luft die Haut zu verbrennen scheint. Ich habe mich schnell daran gewöhnt, denn ich liebe ihn, den Sommer.

Von mir aus könnte er ewig andauern, immer so sein wie jetzt. Doch jede Jahreszeit hat ihren eigenen Zauber, und bereits jetzt brenne ich darauf, die nächste mit allen Sinnen wahrzunehmen.


Der Verkehr um diese Zeit hier ist gewöhnungsbedürftig. Es ist laut, manchmal ist er auch zu riechen, um nicht zu sagen: er stinkt.

Dennoch, ich mag die Lebendigkeit, die er mit sich bringt. Er erzählt von den Menschen, die hier ihren Urlaub verbringen, die entspannt von einem Ort zum nächsten fahren. Ich stelle mir vor, wie sie zu zweit, in einem Hotelzimmer, romantisch ihre Nächte verbringen, den nächsten Ausflug planen –

oder wie eine ganze Familie versucht, mit ihren Kindern und deren immerwährenden Fragen, den Einklang zu halten.

Wie Mutter und Vater, trotz mehr gewünschter Zeit zur Zweisamkeit, in kleinen Augenblicken ihre kleine Flamme der Liebe wieder auflodern lassen.


Für mich ist es ein Sommer der Stille, trotz des bunten Treibens um mich herum, angefüllt mit endlos vielen, neuen Eindrücken. Es ist ein Sommer des Ankommens, in mir und hier, an diesem Ort, den ich mir im Herbst, Winter und Frühling so vorstelle, als wäre er dann, nur ganz für mich allein gemacht.

Mit seiner Postkartenlandschaft, den beeindruckenden Bergen, dem chamäleonartigen See.


Der See sieht wirklich jeden Tag ein bißchen anders aus: von tiefem Dunkelblau wie das allertiefste Meer bis hin zum hellen Grün des ersten Grases im Frühling. Von stiller, spiegelnder Oberfläche hin zum wild tosenden, schaumkronenbildenden, angsteinflößenden Ungeheuer und noch weiteren, unendlich vielen Gesichtern.

Er lebt, erträgt die Motoren der Boote und Schiffe, die vielen kleinen Menschlein, wie sie sich in ihn hineinwerfen, und ich frage mich, ob es ihm gefällt oder ob er wohl lieber seine Ruhe hätte.


An manchen Abenden ziehe ich los. Hier kann ich meine Leidenschaft, Menschen zu beobachten, bis an meine Grenzen der Fantasie ausweiten.

Seltsam – es zieht mich trotz meiner Suche nach Stille in diesen bunten Pulk, und vielleicht finde ich ja genau dort die Ruhe in mir. Weil meine Stille lauter ist als jeder Lärm da draußen?


Sehr häufig bin ich im nächstgrößeren Ort, nur ich und mein kleiner Hund. Sie widerspricht mir nie, ist nur glücklich, mit mir zusammen zu sein, und wir genießen es anscheinend beide, das bunte Treiben der schönen Menschen zu beobachten.

Wie sie sich am Strand betont lässig geben, braun gebrannt und erholt wollen sie erscheinen, das Wichtigste ist ja, was die anderen Menschen denken. Nicht nur, wie man aussieht, sondern auch, was man trägt und wie man riecht. „Kleider machen Leute“, sagt man.

Und auch das kann ich beobachten: wieviel Zeit, Aufwand und sicher auch Geld sie in die Hand nehmen, um schön zu sein. Wie gut sie riechen wollen und dabei eine Wolke, einer kaum erträglichen chemischen Biowaffe, in der Luft hängt.


Leider ist dies alles nicht echt. Nichts und niemand scheint echt zu sein hier im Gebiet voller Touristen aus aller Herren Länder.

Deutsche, Amerikaner, Franzosen, Holländer, Engländer, Schweden, Dänen, Italiener, Schweizer, Österreicher – die Palette ist wirklich bunt, voller unterschiedlicher Farben, und doch wirken sie alle gleich.

Fragen sie sich, ob Kinder ihre Kleidung genäht haben? Welche Duftstoffe, um nicht zu sagen: stinkende Pestizide, sie sich auf ihre Haut schmieren? Ein Sommer der Stille im bunten Treiben (2)


Sie sitzen an Tischen, Abend für Abend, unterhalten sich angeregt und lassen es sich schmecken, aus Pfanne, Topf und Ofen.

Stellen sie sich auch die Frage, wer da auf ihrem Teller liegt? Wie es dahin kam, dieses unglückliche Lebewesen?

Ich weiß es nicht.

Ich versuche hier eine Grenze zu ziehen, ich mag es mir nicht vorstellen.


Um sie nicht zu verurteilen, übe ich mich in Nachsicht, sage mir, daß sie es einfach nicht besser wissen, nicht wissen können. Denn wenn sie dies alles wüßten, dann würden sie sich anders verhalten, dann würden sie dies alles nicht tun – oder?


An manchen Tagen gehe ich an den gleichen Tischen vorbei und sehe den gleichen Kellner vor dem gleichen Gast stehen. Die „Truman Show“ kommt mir in den Sinn.

Vielleicht spielt mir mein Verstand auch einen Streich?

Wer weiß…


In diesem Sommer habe ich eine Sucht zu Eis entwickelt, meine bewußte Gleichgültigkeit.

Nein, es ist mir nicht gleichgültig. Ich habe ein ehrliches, schlechtes Gewissen, den Milchkühen und auch mir nicht wirklich etwas Gutes zu tun. Ich gelobe mir Besserung, es ist ja nicht ewig Sommer. Doch dieses süße, hier besonders schmackhafte, kalte Wunder in allen Geschmacksrichtungen, auf die ich nie kommen würde, ist doch ein kleines Stück Seelenfutter. Vielleicht brauche ich es jetzt gerade. Schokolade, gesalzenes Karamell…


Die Menschen sind freundlich, zu allem und jedem, sie sind entspannt, zuvorkommend, und die, die arbeiten müssen, haben eine mitreißende Energie.

Ihr Leitsatz jeden neuen Morgen muß wohl sein: „Eine kurze Zeit alles geben!“


Auch heute bin ich wieder unterwegs, unterwegs zum bunten Treiben in wunderschöner Umgebung mit einer leicht bröckligen Fassade. Ein immer gleiches Theaterstück, mit kleinen Veränderungen im Text, in den Farben und den Gerüchen.

Ich atme es ein, dieses Leben.

Dieses bunte Treiben –

ich stehle es unbemerkt, nehme etwas davon zu mir mit nach Haus, dorthin, wo die Stille mich umgibt.

Vielleicht flüchte ich vor der Stille im Außen?


Die kurze Strecke mit dem Auto zu fahren, Musik zu hören, manchmal mitzusingen, die Aussicht genießen, daß ist mein Stück Schwelgerei.

Vielleicht bin ich es bald über, ich vermute es, fühle es schon kommen.


Das ist gut, dann habe ich genug des fremden Lebens geatmet.


Wieder einmal suche ich einen Parkplatz. So wie heute nehme ich oft den gebührenpflichtigen, was für ein Wort, wem gebührt die Pflicht?

Doch er ist um diese Zeit immer überfüllt, manchmal drehe ich einige Kreise. Doch wie von Zauberhand ist immer einer für mich da, und dann bin ich angekommen, an diesem Ort.


Heute ist es verhext, es ist einfach nichts frei. Es soll wohl nicht sein, denke ich mir, und überlege, welchen Parkplatz ich als nächstes anfahre.

Aus den Augenwinkeln heraus beobachte ich ein junges Pärchen, ein junger Herr und ein gnädiges, hübsches Fräulein. Niemand würde die beiden heute noch so bezeichnen, doch meine Gedanken schon.

Ich sehe ihnen nach, mich fragend, welche Sprache sie sprechen, wo sie herkommen – und, und, und…


Plötzlich nehme ich eine unscheinbare Handbewegung des jungen Herrn wahr: Meint er mich, oder hat er lediglich eine Mücke weggescheucht?

Die gibt es hier wie Sand am Meer, ich denke, es ist wahrscheinlicher, daß es das Zweite war.

Da ich immer noch keine Lücke zwischen den glänzenden, mehr oder weniger polierten Statussymbolen finde, folge ich den beiden.

Nebenbei bemerkt: Ich fahre notgedrungen auch ein Statussymbol, ich mag mein Fahrzeug sogar.

Nur wollte ich nie besitzen –

mit dem Eis die zweite Regel, die ich gebrochen habe.

Wenn das mal nicht so weitergeht…


Ein Sommer der Stille im bunten Treiben (3)


Ich finde die beiden jungen Leute wieder.

Irgendwie kommen sie mir bekannt vor...

Kein Wunder, sie sind vielleicht auch so wie ich öfter hier. Sie steigen tatsächlich in ihr Auto ein, und ich habe einen Parkplatz!

Wunder geschehen doch!


Sie parken aus, und unverhofft steigt das Fräulein aus und kommt direkt auf mich zu. Ich habe keine Ahnung, was sie von mir möchte. Ihr Auto ist ziemlich alt und mächtig verbeult, beinahe, als hätte Thor mit seinem Hammer darauf eingeschlagen.

Da ich Thor und auch keinen Hammer in ihrer Hand sehe und sie mindestens zwei Köpfe kleiner ist als ich, lasse ich meine Scheibe runter.

Sie reicht mir lächelnd einen Zettel zu. Ich nehme ihn und begreife schneckenartig, daß sie mir ihren Parkzettel schenkte.

Schnell rufe ich noch ein paar Dankesworte hinterher, unwissend, ob ich die richtige Sprache benutzt hatte. Als sie einsteigt lächeln wir uns an, ihre Augen blitzen kurz auf.

Die richtige Sprache brauchte ich nicht, wir sind zwei Menschen auf Augenhöhe, zwei Engel in diesem unechten Leben, die einfach nur echt sind.

Drei, Thor, der junge Mann, lächelt mir auch zu.


Ich parke ein, will den Parkschein hinter die Scheibe legen. Es sind zwei Stunden, die ich jetzt Zeit habe, um wieder ins bunte Treiben einzutauchen.

Doch jetzt begreife ich erst, wirklich langsam scheint alles in mir und um mich herum zu sein,

ich habe Zeit bis: 21:44 Uhr.


Man kann an Engelszahlen glauben oder nicht.

Zufälle –

und da bin ich ganz sicher –

gibt es nicht.


Denn jetzt, Stunden später, wenn alle schon schlafen, schreibe ich meine Geschichte, mein Sommergefühl.

Ich kenne die beiden, ich habe sie schon einmal gesehen, getroffen: das Fräulein, Thor und das zerbeulte Auto.

Vielleicht war es zu Beginn, als ich begriff, daß dieser Parkplatz zur Gebühr verpflichtete, denn in den ersten Wochen habe ich die Automaten gar nicht wahrgenommen.

Ich war es.

Ich habe es vollkommen vergessen, es erschien mir zu unwichtig.

Doch anscheinend habe ich mit einer unscheinbaren, mich nichts zusätzlich kostenden Geste, die Welt verändert.

Und am heutigen Tage ganz offensichtlich auch meine Welt – ich habe einen Stein ins Rollen gebracht.


Gedankenversunken gehe ich zu Bett, in Gedanken bei Fräulein und Thor, als ich sie das erste Mal sah. Als ich ihnen meinen Parkplatz überließ, ihnen meine Gebühr schenkte.

Zum wiederholten Male stelle ich mir selbst beim Einschlafen die Frage:

wer bin ich, eigentlich?


Ich schlafe mit einem Lächeln ein und im Hinübergleiten ist da wieder dieser eine Satz:

„Ich vertraue dir, ich glaube an dich.“,

den ich nicht wirklich selbst sage, denn ich bin schon weg,

meine Seele geht an einen geheimen Ort…


Eine wahre Geschichte, geschehen im August 2025.


Amanda

Schwarzenau

August 2025





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